Die Oper war prunkvoll, und auf alt gemacht - und doch unverkennbar neu, als ob der Architekt beides gewollt hätte, die beiden Welten, alt und neu, im Besten zu vereinigen. Doch es fiel auf, diese gewollte Brüderschaft, und man sah ihr schon von weitem an, daß der Schein dieser Einigkeit trügte.

Die Staatsoper im Verkehr

Der schwere Kronleuchter, der über dem Parterre hing, so, wie es in einer Oper sein mußte: dieser Kronleuchter war zu neu. In seinem Kristall (und wer vermochte von so weit unten noch zu erkennen, ob es doch wirklich Kristall war? doch wollen wir nicht zweifeln) spiegelte sich nicht der Schein von hundert Jahren Kerzenlicht, nein, der einzige Widerhall, den man dort fand, war der fahle Schein der Glühbirnen, die so aussahen wie diejenigen, die man doch auch in der Küche, zu Hause, hat. Prunkvoller ausgestattet, sicherlich; doch der Unterschied war nun nicht groß genug.

Auch war dieser Unterschied zu klein, weil man versucht hatte, das ganze modern zu gestalten, wobei man die Tatsache übersehen hatte, daß Oper so wenig zur modernen, glühbirnenübersäten Welt paßte wie die nackten, dicklichen Engeln auf der Brücke draußen, die ausgerechnet dort schwebten, wo am meisten und am trübsten der Verkehr durchfuhr. Die Kunst der Oper lag eben in der Vergangenheit; dieses Melodrama paßte nicht übergangslos (seamlessly) in die Neue Welt. Diese Welt, wo Politiker mit Macht und mit dem Volke tollkühn spielten, wo das Fernsehen täglich neues aus entlegensten, exotischen Orten brachte, wo man an allem zweifelte, und wo das wenige, das wie echt aussah, eigentlich Kitsch war - dieser Welt war die Oper nicht gewachsen. Hier paßte der Gesang der ewigen Liebe nicht, es sei den, er wurde rosarot gefärbt und auf Englisch mit leichtem Schlagzeug im Hintergrund für das Radio entwunden. Aber die dunklen, dramatisch triefenden, leidenschaftlichen Lieder, sie paßten hier nicht mehr herein. Ihre Welt war verloren; vielleicht hatte sie auch nie existiert. Und doch kamen die Menschen weiter, ließen sich in der Dunkelheit entschwinden, hörten verträumt oder auch verschworen diese Musik, vielleicht ließen sie sogar Tränen fallen bei dem wohlbekannten Tode einer der scheinbar so vielen Schwindsüchtigen jungen Frauen.

In den Pausen siegte sie aber doch, die Gegenwart, sie zerrte das Publikum wieder in sich herein. Familienstreit entbrannte auf dem Gang, immer leise gehalten - man war ja schließlich nicht zu Hause - doch für Kenner und Laien gleichfalls unverkennbar. Die zischelnden Töne, der halbverdeckte Ärger, die alteingesessene Liebe und Hoffnungslosigkeit. Sie flammten wieder auf, die alten Streitigkeiten, und keiner ahnte, warum so viele Familien sich auf einmal, in der Pause, uneinig werden mußten. Es lag an der Zeit, sie wurden von einer Zeit zur anderen gezogen, sie widerstrebten, hingen dieser Welt des unrealen an, und dieser Zorn, den sie gegen die Zeit hätten wenden sollen, blieb an ihren Nächsten hängen. Und so drohte ihnen der alte Streit.

Das Klingeln, durch welches das Pausenende herbeigerufen wurde, war eine Erlösung, obgleich der Ton manchen doch zu mechanisch klang. Die Menschenmasse kehrte wieder ein in das große Haus, wo man von großen Sachen träumen durfte. Die Gefühle hier waren nie klein; Liebe währte bis an das tragische Lebensende, der Tod selber ließ den Todesgeweihten die Zeit, sich zu verabschieden oder ihn gar herbeizurufen, und das alles in den wunderschönsten Arien und Klageliedern. Es war eine Welt des Melodrams, alles war überlebensgroß und mußte so sein.

Und es reichte doch nicht aus, weil die Oper endete, und das Publikum sah, wie die Lichter im Saal aufgingen, und sie wollten sie nicht sehen und mußten es doch, und sie bereiteten dem Zauber und der Verlorenheit derer, die in das Märchen hineingetreten waren, ein zu schnelles Ende. Der Traum, die Unwirklichkeit der Bühne, der man doch hatte glauben wollen, schwand im fahlweißen Lichte dieser Glühbirnen, eben solche, wie sie zu Hause in der Küche hangen.

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