Es war keine besondere Nacht. Sie war kalt wie alle in dieser grauen Jahreszeit, und der Himmel lag unerkennbar hinter einem dichten Wolkenschleier. Unten wurden die leeren Straßen von gelangweilten Straßenlampen erleuchtet. Kein Mensch war zu sehen.

Vom Balkon aus sah man einen Teil der Stadt. Von hier sah die Stadt kleiner aus, weil die dichten, hohen Altbauhäuser die Sicht versperrten. Man konnte sich fast geborgen fühlen - bis man bemerkte, daß die Stadt doch noch weiter ging; bis man die Lichter ganz leise in der Ferne leuchten sah und wußte: dort waren auch Menschen, die in ihren kleinen Wohnungen vergeblich von der Stadt ein Gefühl der Zugehörigkeit verlangten. Bis man sich daran erinnerte, wie die Straßen sich im Tageslicht benahmen, erfüllt mit einer bewußtseinslosen weder rechts- noch linksblickenden Menschenmasse, die alles aus ihrem Weg fegte. Bis man sich daran erinnerte. Und dann schwand das schwache Gefühl, das sich behauptet hatte, das es gewagt hatte, zu suggerieren: Man kann sie doch lieben, diese Stadt. Eine verschworene Nachtliebe nur, die bei Tage so verschwand wie die Leere der Straßen.

Ein kalter Wind wehte, doch auch dieses war nicht anders zu erwarten. Die Menschen hörten durch geschlossene Fenster nur leise das Hauchen des Windes, der draußen alles als das Seine erklärte. Blätter flohen von den dürren Bäumen, die in der Stadt irgendwie unecht erschienen. Man erwartete fast, daß sie am Sterben wären, und jeden Tag stellte man überrascht wieder fest, daß sie doch zu gedeihen schienen. Aber der Schein kann trügen, denn wir wußten nichts von ihren Wurzeln.

Ein einzelner Mensch ging gegen den Wind an. Der Wind strengte sich nicht an, sah den Mann gar nicht, und doch fuhr er ihm in alle Knochen. Der Wind tat seine Pflicht, und der Mann erwiderte mit der Seinen: er fror. Doch in Kürze würde er die Kneipe erreichen, und rasch hinter sich die Tür schließen dürfen.

Die Kneipe war das einzige, was als Lebenszeichen hätte auf dieser Straße zählen können. Man konnte sich zwar nicht recht vorstellen, daß unter dem apathischen, weil so weit verbreiteten, Neonschild - Schultheiss, schlicht, einfallslos - hinter diesen weißen, trotz ihrer Dreckigkeit antiseptisch wirkenden Mauern Leute saßen, die einander Geschichten erzählten, Karten spielten, ihre Freundschaft betranken und ihren Liebeskummer ersauften. Aber man wußte, daß es so sein mußte; sonst gäbe es Lilli's Bierbar nicht. Aber das Leben war drinnen. Von der Straße versteckte es sich; man wußte nicht, warum. Aber eigentlich wußte man es doch.

"Typisch Berlin." Trotzdem, oder deswegen? - schmecken tut's nicht so doll.

An der dunklen Straßenmündung stand, groß und zur Nachtzeit schwarz gegen den Himmel gewölbt, die Kirche. Die Samariterkirche, groß und trotzig, wie sie des Tages war, damals, als der Realsozialismus diese Welt beherrschte. Doch gegen wen ist der Trotz nun gerichtet, der während vierzig langen Jahren in jeden Stein des Gebäudes einsickerte? Sie ragt zum Himmel, als ob sie ihn bedroht, als ob sie eine Herausforderung wagt, die doch nie erwidert wird. Sie trotzt jetzt nur noch dem, zu dessen Ehren sie mal errichtet wurde.

Blätter wurden vom Winde weggerissen, er spielte nicht mit ihnen sondern deponierte sie unsanft, dort, wo sie am nächsten Tage unbeachtet liegen und langsam verfallen würden. Alles andere, was vergehen kann war, hatte ein anderer Wind, oder vielleicht auch derselbe, vor langen Zeiten schon abgeholt. Die Straße war eine Straße, nichts weiteres.

weiter, auch weiter, oder zurück zum index

schick mir 'ne mail